Meine Freundin Bella seufzt bei diesem Vorurteil nur noch. Früher hat sie sich darüber geärgert, sie war auch manchmal traurig darüber und hat sich mit ihren Kindern zurückgezogen. Heute kann sie diese Aussagen besser an sich abprallen lassen.
Ihre Jungs, heute mit 13 und 19 Jahren im besten Teenageralter, haben beide ADHS, der Kleine hat zusätzlich eine Diskalkulie. Sie ist selbstständig und alleinerziehend. Wow. Was für ein Programm!
Eigentlich kenne ich Bella schon ewig, aber wir haben uns aus den Augen verloren. Sie hat meinen Blog gelesen, und sie ist bereit, mir ihre Geschichte zu erzählen.
Ich habe natürlich viele Fragen an sie. Der Alltag und die Gefühlswelt von Müttern anderer Kinder interessiert mich sehr. Ich denke – oder hoffe? – dann immer, dass da noch jemand ist, der ähnliche Erfahrungen macht wie ich, und der vielleicht sogar in der gleichen Emotionsachterbahn sitzt…
Aber anstatt sofort Gemeinsamkeiten zu finden, stelle ich erstmal einen Unterschied fest, der mir nicht das erste Mal unterkommt. Ich frage sie „wann hast du denn festgestellt, dass sie irgendwie anders sind als andere Kinder?“ Sie antwortet „ach, ich fand eigentlich nie, dass sie anders sind. So wie sie sind, liebe ich sie.“ Die Antwort kenne ich, und sie irritiert mich, weil ich besonders meinen Großen recht früh irgendwie anders fand. Dass ich ihn so liebe, wie er ist, steht dabei außer Frage. Warum war das so, wieso fand ich ihn nur anders?? Ja klar, alle Eltern finden ihre Kinder besonders. Das muss und soll so sein! Die größten Fans der kleinen Leute sitzen zu Hause und beklatschen jeden noch so taumeligen Schritt in irgendeine Richtung – das ist super und gibt Selbstvertrauen. Hab ich genauso getan. Unterschiede habe ich trotzdem wahrgenommen. Noch heute klingen mir Worte im Ohr wie: „mit dem unterhält man sich ja schon, wie mit einem Großen!“ Da war mein Sohn ungefähr vier. Ich hatte keine Erfahrung mit Kindern, und trotzdem: irgendwie hab ich mir diese Äußerung bis heute gemerkt. Ich weiß nicht, wieso, aber ich würde auch gerne antworten könnten „ach, irgendwie fand ich ihn nie anders.“. Wäre aber gelogen.
Aber zurück zu Bella: sie erzählt mir, wie alles gekommen ist. Die Trennung von ihrem Mann als der Kleine echt klein war, und der Große eigentlich grade einen Papa gebraucht hätte – aber manchmal geht es eben einfach nicht. Der Große wurde grade eingeschult und die Probleme fingen an: immer Ärger mit den anderen Kindern, immer Streit. Natürlich schiebt sie es auf die Trennung vom Vater. Als sich die Probleme verstärken, sucht sie mit ihrem Sohn den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst auf. Was dann folgt, ist der übliche Wahnsinn einer Familie auf dem Weg zur richtigen Diagnose und zur richtigen Unterstützung: Tagesklinik, Ritalin, mehr Ritalin, wieder weniger Ritalin, gute und schlechte Phasen, auch sehr schlechte Phasen. Sie muss miterleben, wie sich ihr Kind vier Monate in seinem Zimmer einschließt, Anzeichen einer Depression zeigt und selbst hilflos daneben steht, weil man sogar in deutschen Großstädten mehrere Monate auf den richtigen Arzttermin warten muss. Zur Schule kann der Junge kaum noch gehen, der Hausarzt hilft ihr, aber seine Mittel sind begrenzt, das Schulamt baut Druck auf – dazu kommt ihr Job, der Ex-Mann und bei all dem nicht zu vergessen: ein zweites Kind, das auch Zeit, Liebe und Aufmerksamkeit braucht.
Dann endlich der erlösende Anruf: der Große kann in der Klinik aufgenommen werden, ihm wird geholfen. Sie fahren hin und haben einen guten Eindruck. Und dann der Moment, der für Eltern zur Nagelprobe werden kann: „Mami. Ich kann hier nicht bleiben. Das ist nichts für mich. Bitte nimm mich wieder mit nach Hause.“
Das sind für mich die entscheidenden Momente. Was hätte ich getan? Was hätte jemand anderes getan? Was wäre richtig gewesen, und gibt es hier überhaupt richtig und falsch? Das sind die Momente im Leben, die dir zeigen, was es WIRKLICH heißt, erziehungsberechtigt zu sein. Die täglichen Entscheidungen für die Sportart, die Schule und wie lange man abends aufbleiben darf, sind schon anstrengend genug. Aber diese Momente, die Eltern anderer Kinder naturgemäß häufiger durchmachen müssen als die vermeintlich normaler Kinder, gehen ans Eingemachte.
Bella jedenfalls hört auf ihr Herz und packt den Jungen samt Gepäck wieder ein. Und wird belohnt. Er findet seine Erfüllung und einen Platz im Leben: Tierpfleger möchte er sein. Er hat wieder angefangen die Schule zu besuchen, geht heute regelmäßig zur Berufsschule und zu seinem Ausbildungsplatz, Bella steht morgens mit ihm um 05:30h auf und macht ihm ein Brot, bevor er losgeht. Sie haben einen tollen Familienhelfer bekommen, der einen guten Draht zum Kind hat und auch Bella unterstützt.
Zwischenzeitlich war auch der kleine Bruder in der Schule angekommen. Die gleichen Probleme – und nach einiger Zeit die gleiche Diagnose: ADHS. Es folgte eine Mischung aus Verhaltenstherapie, Elterncoaching und Ritalin – mit tollen Erfolgen! Nur das schlechte Gefühl, seinem Kind Ritalin zu geben, nagt an Bella. Aber: das Kind war glücklich, es hatte Erfolge in der Schule und gewann an Selbstvertauen! Das ist, zumindest für mich, der schönste Lohn: ein glückliches Kind auf dem Weg zu Selbstvertrauen und Stolz. Und endlich kehrt ein bisschen Ruhe ein. Sowas wie ein Alltag. Ein Alltag mit Platz für schöne Sachen, für „Einfach-nach-Hause-kommen“ und Zeit verbringen. Kein Anruf in der Schule, kein Termin bei irgendeinem Arzt oder irgendeinem Amt oder irgendeiner Therapie. Hallelujah!
Aber das Leben wäre nicht das Leben, wenn es so bliebe. In der dritten Klasse fällt auf, dass er in Mathe irgendwie nicht mitkommt. Bella übt und übt und übt mit ihm, der Junge strengt sich an, doch es wird einfach nichts. Ach, es wäre so schön, wenn dann jemand zu einem käme, zum Beispiel ein Integrationsbeauftragter der Schule, der sagt: wenn Sie einverstanden sind, mache ich mal ein paar Tests mit ihrem Kind. Vielleicht hat es eine Diskalkuie. NEIN, ES KOMMT KEINER. Denn Integration oder Inklusion oder was auch immer hier der richtige Begriff wäre, ist eine Worthülse. Lehrer, Eltern und Kinder sind mit Abweichungen komplett alleine gelassen. Auch Eltern von Kindern ohne Probleme sollten sich hier angesprochen fühlen, denn die Realität ist doch, dass sich ein Lehrer immer am „schwächsten“ Kind orientieren muss. Er kann ein Kind mit Problemen in Mathe ja nicht einfach ignorieren. ALLE Kinder dieser Klasse sind betroffen. „Es folgen drei Jahre endlose Telefoniererei“, erzählt Bella. „Wechsel bei den Sachbearbeitern, gar keine Sachbearbeiter mehr da, neue EU-Richtlinien, Wartezeiten für einen Test, Verschiebung des Tests…“ Bella verzweifelt schier. Zu Hause nur noch Frust und schlechte Stimmung. Wie sollte es auch anders sein. Es dauert DREI JAHRE bis sie einen Test machen kann, selbst ein Institut für Integrative Lerntherapie findet und die Bestätigung vom Jugendamt erhält, dass die Kosten dafür übernommen werden. Drei Jahre Frust, Schmerz und Probleme in der Schule. FÜR ALLE. Zur Erinnerung: das ist keine Vorkriegsgeschichte von der Schwäbischen Alb, sondern ca. 2016 in einer deutschen Großstadt passiert.
Nun endlich geht es bergauf. Bella sagt, sie nimmt einfach jeden Tag einzeln für sich. Sie schaut, was passiert. Es wird schon eine Lösung geben. Sie wirkt glücklich. Sie leben gerne zu Dritt. Die Jungs gehen nicht gerne woanders hin, meistens sind sie alle bei sich und haben Full House, weil die Freundin des Großen da ist, der Kleine noch jemand einlädt, und weil Bella auch gerne Menschen um sich hat. „Es ist ziemlich unordentlich und chaotisch bei uns. Aber fröhlich!“ Sie versucht, nicht ständig zu meckern und viel zu erlauben. „Nur kein Feuer“, sagt sie schmunzelnd, „wär doch schade, wenn hier alles abbrennt.“ Da müssen auch die Kinder lachen. Dafür macht der Große abends plötzlich mal Crepes für alle, die herrlich schmecken, und es brennt auch nix. Wer die Küche wieder sauber macht, wissen wir alle. Aber das stört Bella nicht.
Ich finde sie großartig, und ich versuche, mir ein Beispiel an ihrer Gelassenheit zu nehmen.
Was ist denn jetzt mit den Gemeinsamkeiten?? Ich glaube, ich finde eine: dieses permanente Telefonieren / E-Mailen mit Schulen, Lehrern, Ämtern, Psychologen, Ärzten und Therapeuten. Wir haben ja schon einen Blumenkohl am Ohr, bevor wir uns darum kümmern können, welche Sportart in welchem Verein die Kinder vielleicht ausüben können, um dann festzustellen, dass sie die eigentlich gar nicht ausüben wollen und die Gesellschaft anderer Kinder auch irgendwie gar nicht so richtig genießen, und man sich damit eigentlich noch viel mehr Stress gemacht hat, aber irgendwie will man, also ich, ja auch „dazugehören“. Letzteres ist keine Gemeinsamkeit. Die Phase hat Bella schon überwunden. Ich stecke noch drin. Ich sag ja, ich versuche, mir ein Beispiel zu nehmen.
Ist ADHS jetzt, „wenn man sich zu wenig kümmert“? Sicher nicht. Ich finde, Bella ist eine dieser Alltagsheldinnen, die beweisen
ADHS ist, wenn man sich noch mehr kümmert.
Liebe K., sehr gerne lese und lobe ich deine wöchentlichen Beiträge. In deinem Beitrag von heute schilderst du die Schwierigkeiten einer „ADHS“-Mutter bei der Suche nach Unterstützung verschiedener Behörden und kommst aufgrund der drei Jahre dauernden Bemühungen zu dem Vergleich mit Vorkriegssituationen von der schwäbischen Alb. Da ich zu Kriegszeiten dort aufgewachsen bin kann ich dir berichten, dass dieser Vergleich der heutigen Situation in Deutschland nicht gerecht wird, weil es damals und auch in den Jahren danach weder Unterstützung noch Behörden für solche Fälle gab. Die Situation von damals ist sicher vergleichbar mit den heutigen Verhältnissen in den meisten Ländern der Welt. Ich finde es einfach großartig dass wir in einem Staat leben, der unterstützend als Ansprechpartner, Berater und Kostenträger zur Verfügung steht. Auch das sollte man einmal lobend erwähnen. Liebe Grüße, dein Papa