Ich hasse diese Frage. Ehrlich jetzt. Man ist froh, dass alle Bälle so in der Luft sind, dass man sie wahrscheinlich wieder auffangen kann, und dann fliegt einem ein neuer ins Gesicht. Was gibts zu Essen – pfft, das, was es halt gibt. Irgendwas. Nudeln, Brot, Pizza? Sicher kein dreigängiges Menu Surprise.
Dann fällt es mir wieder ein. Mein Großer braucht eine echte Antwort. Es ist eine Frage nach Struktur und Vorhersehbarkeit. Was gibt es zum Essen und wann. Warum lerne ich das nicht? Ich entscheide schnell. „Um 19h gibt es Nudeln mit Mama-Sauce“ (Spezialität des Hauses, Anm. d. Red 😁.) „Okeeeeh“. Inhaltlich offenbar kein Volltreffer, aber die Aufgabe ist erfüllt. Sehr gut. Ball in der Luft.
Ob ich mal so die alltäglichen Unterschiede zusammenfassen könnte, werde ich manchmal gefragt. Wie der Alltag mit einem Asperger ist im Gegensatz zu einem “normalen” Kind. Tja, ehrlich gesagt…keine Ahnung. Ich kann nur erzählen, was bei uns so los ist und dann Mutmaßungen anstellen, wo ein Unterschied sein könnte.
(Wenn ich nur wüsste, wie mein Großer wäre, wenn er keine Autismusstörung hätte… aber selbst wenn ich das wüsste, könnte ich wahrscheinlich nur ein bisschen besser raten)
Bei meinem Essensbeispiel stelle ich folgende Mutmaßung an: auch “normale” Kinder fragen das. Die sind aber tatsächlich mehr daran interessiert, was es gibt, während es sich bei meinem Großen eher darum dreht, eine Tagesstruktur zu erkennen. Nicht, dass ihm total egal wäre, was es gibt, aber wichtiger ist, dass er Bescheid weiss. 19h. Nudeln. Haken dran.
Jetzt in der Ferienzeit fallen mir aber vielleicht doch Unterschiede auf. Natürlich kann ich wieder nur mutmaßen. Beispielsweise waren viele Familien sehr erleichtert, dass es trotz Corona einige Camps gab, die stattfinden konnten. Nicht nur die Eltern haben sich gefreut, sondern auch die Kinder sind auf eigenen Wunsch mit anderen Kindern ihren Hobbies nachgegangen: Tennis, Hockey, Reiten – sogar ein Mathecamp war in meinem nächsten Umfeld mit dabei und wurde mit großem Spaß besucht und schon fürs nächste Jahr vorreserviert. Auch ich selbst war als Kind ab acht Jahren am allerliebsten mit meiner Schwester und ca. 30 anderen Kindern auf dem Reiterhof. Im Sommer am liebsten sechs Wochen am Stück! In Achterzimmern wurde geschlafen, an Zehnertischen gegessen – es war laut, wild und voller Kinder und Tiere. Herrlich!
Unsere Kinder fragen das nicht nach. Und für den Großen wäre es auch undenkbar, außer es ginge um sein Spezialinteresse und die Situationen wären eng moderiert. Meine Mutmaßung hier lautet also: „normale“ Kinder suchen in der Ferienzeit den Kontakt zu anderen Kindern und haben gerne Spaß mit ihnen, während so etwas für mein Asperger-Sohn nicht nur nicht von Interesse ist, sondern er das aktiv ablehnt. Außer der o. g. Ausnahme vielleicht, dafür nähme er andere Kinder in Kauf.
Viele Familien reisen ja bewusst mit anderen Familien in den Urlaub, damit das Bedürfnis nach Sozialkontakten bei Erwachsenen und Kindern berücksichtigt wird. So fahren wir zu Weihnachten traditionell mit meiner gesamten Familie in die Ferien, seit über 40 Jahren an den gleichen Ort in das gleiche Hotel – um dort andere Familien zu treffen, die das ebenso machen. Das hört sich völlig verrückt an, ich weiß! Für mich entfaltet sich der wahre Wert dieser traditionellen Reise darin, dass wir als große Familie zusammen sind, und dass dort viele Menschen sind, die ich gerne treffe, mit denen ich mich gut und gerne unterhalte, einen Spaziergang mache, an der Bar sitze oder eine Runde Backgammon spiele. Für meinen Großen ist hauptsächlich wichtig, dass wir dort hinfahren und die Tradition einhalten. Er liebt diesen Ort, aber wenn er menschenleer wäre, und nur sein Papa und ich mit ihm dort wären: es wäre für ihn mindestens genau so schön. Das ist vermutlich der Unterschied zwischen ihm und anderen Kindern seines Alters.
In unserem vor kurzem „absolvierten“ Sommerurlaub haben wir ja recht viel unternommen, aber es war schon zu Viert immer kritisch. Am besten funktioniert es zu Zweit: er und ich oder er und Papa. Schon die Unvorhersehbarkeit der Handlungen seines knapp fünfjährigen Bruders treiben das Vorpubertier in den schieren Wahnsinn. Er kann überhaupt nicht damit umgehen, dass der Kleine ihn permanent zur Interaktion herausfordert. Für den Großen ist das nicht plan- und vorhersehbar, und es ist vor allem nicht einfach „abstellbar“. Dazu stresst ihn das viel zu sehr, und er findet auch keinen Handlungs- oder Kommunikationsweg um dem Kleinen klarzumachen: ich will das jetzt nicht. Es endet immer im verzweifelten Streit.
Hier meine Mutmaßung: auch in anderen Familien gibt es Geschwisterstreit. Aber bei den meisten wird wohl die Sozialkompetenz etwas höher sein. Wir dürfen bei unseren Kindern den Punkt nicht verpassen, an dem für unseren Großen der Overload beginnt. So wichtig es ist, dass sie streiten lernen, und vor allem auch lernen, den Streit irgendwie ohne unsere Hilfe zu beenden, so wichtig ist es, dass wir mit einem Ohr „dran“ sind, um diesen Punkt zu erkennen und uns dann eben doch einzumischen und zu sagen: „Jetzt ist Schluß. Jeder geht in ein anderes Zimmer.“ Ich denke, die Gefahr eines Vulkanausbruchs fehlt in „normalen“ Familien. Da bleibt es beim (lauten, wilden, erbitterten) Streit…
In dem Buch, das ich hier am 21.7.20 empfohlen habe, habe ich gelesen, dass autistische Gehirne bei zu viel sozialem Stress einfach „abschalten„. Abgesehen vom Overload, der alleine schrecklich genug ist, lernt er noch nicht mal was. Sonst könnte man ja auch sagen: „ja, ok, er wird komplett überreizt und ist dann für ein paar Stunden völlig außer sich, aber es schult seine Sozialkompetenz.“ Da das aber gar nicht so ist, muss man ihn vor Overload und Meltdown (diese Begriffe sind im Beitrag „Wie Schuppen von den Augen“ vom 20. Juni 2020 erklärt) einfach wirklich beschützen. Er kann das nicht alleine.
Was aber machen wir, mein Mann und ich, mit unserem Bedürfnis nach Sozialkontakten?
Im Urlaub waren wir in einem Haus, und nicht in einem Hotel, so dass wir wir gut Leute zu uns einladen konnten. Drei Mal waren uns andere Familien für jeweils einen Nachmittag und Abend besuchen. Es hat gut geklappt, weil mein Großer sich ja immer zurückziehen konnte, wenn er das brauchte. Hat er auch getan. Hat sich dann einfach mit einem Hörspiel in sein Bett gelegt und kam zurück, wenn er wieder bereit war. Und mit fast 12 Jahren hat man ja auch eine Zeitvorstellung: spätestens am nächsten Morgen läuft alles wieder so, wie er es kennt.
An einem anderen Tag waren wir mit Freunden im Kletterpark – das war wunderbar, denn er kennt und mag die Familie, und das Programm ist fest. Beim Klettern hängt jeder in seinen Seilen, und die Interaktion ist plan- und vorhersehbar.
Und dann waren wir noch am Strand verabredet. Mit Freunden, die drei Kinder haben. Das ist natürlich so eine Sache, weil es kein Heimspiel ist. Kein Rückzugsort, ungewohnte Umgebung und dann kommen wir noch mit „wir gucken mal, wie lange wir bleiben“ um die Ecke… da wird ein Asperger echt auf die Probe gestellt.
UND: wir haben es gut gelöst. Es war stürmisch und die Wellen waren dementsprechend! Das liebt mein Großer, und er war bestimmt eine Stunde im Meer. Alleine. Sicher wäre ihm lieber gewesen, wenn sein Papa oder ich auch reingekommen wären, aber wir waren halt mal als Erwachsene mit Erwachsenen zusammen. Es ging gut. Als er rauskam merkte ich, dass er nicht so recht vor und zurück wusste. Er hatte irgendwie keine „Anknüpfung“. Er wurde nach einigen Minuten „so komisch“, ich kann das schlecht beschreiben. Ich hab ihn mir dann geschnappt, und wir sind fast 1 1/2 Stunden Spazieren gegangen. Das war total schön, denn man kann sich super mit ihm unterhalten, wir haben ein Eis gegessen und den Strand angeguckt und genossen.
Meine Mutmaßung ist, dass in Familien, in denen keiner eine Autismusstörung hat, bei 12jährigen Kindern kein knapp 90minütiger Spaziergang mit der Mutter nötig oder gewünscht ist. Zumal mein Großer die anderen Kinder bereits kannte und durchaus Sympathien formuliert hat. Aber Sympathie zu empfinden ist eben was anderes als Sozialkompetenz zu haben. So ist es halt bei uns: Ich hatte eine „Erwachsenen-Zeit“ und dann einen tollen Spaziergang mit meinem Vorpubertier. Es war schön!
Und dann gibt es noch die Ausnahmen und Überraschungen! Denn – mein Großer hat in dem Urlaub das erste Mal bei jemand anderem übernachtet! Bei seiner ältesten Freundin. Der einzige Sozialkontakt zu einem gleichaltrigen Kind, der wirklich funktioniert. Wie das gekommen ist, und wie es dann wirklich war, erzähle ich mit großer Freude beim nächsten Mal!
Aber meine Mutmaßung an dieser Stelle ist: andere knapp 12 jährige Kinder haben schon mal woanders übernachtet. Mein Großer eben jetzt das erste Mal. C‘est la vie!