Heute Vormittag erzählt mir mein Großer wieder was zu seinem Spezialthema, was seit ziemlich langer Zeit Fußball ist.
Anhand von Münzen zeigt er mir Aufstellung und Spieltaktik, die er sich überlegt hat und anwenden würde. Als Trainer wird er damit später erfolgreich und berühmt, sagt er mir. Und er sagt, dass er glaubt, dass sein Asperger-Gehirn ihm dabei helfen kann. Ich bin irgendwie verdattert und nehme diese Aussage erstmal einfach so hin.
Als ich später in der Küche stehe und das Mittagessen vorbereite, möchte ich das doch genauer wissen. Ich frage ihn, wie er das eigentlich gemeint hat: wie könnte dein Asperger-Gehirn dir denn helfen, als Fußballtrainer erfolgreich und berühmt zu werden?
Naja, sagt er, „wir“ denken doch anders als Nicht-Asperger. „Wir“ können Dinge, die es schon lange gibt, quasi neu erfinden. Anders machen. „Wir“ sehen Sachen, die ihr nicht seht, können sozusagen das Rad nochmal neu erfinden.
Aha – zum Glück ist mein Sohn nicht eingebildet…
Aber Moment. Eigentlich geht es doch die ganze Zeit darum: Andere Wahrnehmung. Anders Sehen. Andere Verarbeitung. Andere neuronale Grundstruktur. Das erkläre ich doch selber mantramässig meinem Umfeld. Oder wenigstens seinem Umfeld.
Vielleicht ist er wirklich nicht einfach nur eingebildet, sondern hat auch recht?
Ich frage nochmal: wie meinst du das?
Mama, sagt er, Wenn wir es schlau anstellen, können wir Sachen machen, die es so noch nicht gab. Weil sie so nicht gesehen wurden. Und weil es zumindest mir egal ist, wie anstrengend es ist, dahin zu kommen – wenn ich überzeugt bin, dass das Ergebnis besser wird.
Ich denke darüber nach. Stimmt das? Und dann fallen mir echt Beispiele ein. Hier nur eines:
Seit etwa drei Jahren ist mein Großer regelmäßig zu einer Art „Kinder-Debattier-Club“ eingeladen. Es kommen ca. 20 Kinder zwischen neun und 19 Jahren zusammen und dürfen über die sinnvolle Verteilung von Geld debattieren, das über eine Stiftung für Hilfsprojekte zur Verfügung gestellt wird. Sie stellen zunächst die Projekte vor, die einen Unterstützungsantrag eingereicht haben, und dann müssen sie anhand einer Diskussion Einigkeit darüber erzielen, wie sie das Geld auf die Projekte verteilen. Es geht um echtes Geld und echte Hilfsprojekte. Als mein Großer mit damals neun Jahren das erste Mal teilnahm, blieb ich als Zuhörerin dabei.
Und wurde Zeuge, wie der kleine Kerl die anderen in den schieren Wahnsinn trieb. Das ansonsten gemeinschaftliche Ziel „Konsens erzeugen“ war ihm offenbar gar nicht bewusst. Immer und immer wieder legte er Veto ein und erklärte mehr oder weniger umständlich, warum er noch nicht einverstanden ist. Ich war verzweifelt und dachte a) der Abend endet nie und b) er wird nie wieder eingeladen.
Glücklicher Weise haben sich beide Befürchtungen nicht bewahrheitet. Er hat die anderen irgendwann überzeugt, oder sie haben einfach entnervt zugestimmt, das weiss ich nicht, und er durfte bisher immer wieder dabei sein.
War das mühsam? JA, SEHR! Ist das Ergebnis am Ende besser geworden? Liegt im Auge des Betrachters, würde ich sagen. Er findet, ja.
Ist diese Fähigkeit, „stur“ zu bleiben (so nenne ich das jetzt einfach mal) denn nun ein Vorteil für ihn? Schwer zu sagen, finde ich. Wenn es einen Vorteil darstellt, sich mit seiner Meinung durchsetzen zu können, dann ja, dann ist es ein Vorteil.
Ob ihm das in der Schule auch schonmal geholfen hat, will ich wissen. Nein, sagt er. Da geht es nicht. Wenn da niemand so denkt wie du, ist es einfach nur blöd.
Ich denke weiter nach…wo könnten Vorteile für ihn sein…?
Ein Merkmal von Asperger-Autisten ist ja das, was wir vielleicht „Schonungslose Ehrlichkeit“ nennen würden. Damit meine ich an dieser Stelle die Meinungsäußerung ohne Einbeziehung sozialer Aspekte. Also: schmeckt es dir? – Nein.
Unsereins würde in dem Moment immer tapfer „Ja“ sagen, auch wenn „Nein“ die ehrliche Antwort wäre, und dann halt nicht alles aufessen, oder auch doch. Aber ich finde es unfair uns Neurotypen gegenüber, jetzt einfach zu sagen, wir wären deswegen unehrlich. Wir haben jahrelang mühsam gelernt, dass man die Wahrheit nicht immer schonungslos ausdrücken muss, weil sich das Gegenüber dann auch mal unnötig verletzt fühlen könnte.
Asperger aber lernen nach meiner Kenntnis selten, die Wahrheit zu „bereinigen“. Der soziale Aspekt von Kommunikation bleibt ihnen verborgen. Im Kindesalter ist das kein Problem. Die meisten Kinder sind ja noch sehr ehrlich. Wir Eltern erziehen ihnen das „Bereinigen“ wie gesagt mühsam an und nennen es Höflichkeit. Aber jetzt mal ganz ehrlich: find ich völlig ok! Ich möchte nicht, dass sich jemand schlecht fühlt, weil ICH sein Essen nicht mag oder MIR die Farbe ihrer neuen Jacke nicht gefällt. Kann ich doch ganz höflich und unehrlich für mich behalten.
Ist diese „schonungslose Ehrlichkeit“ nun also ein Vorteil?
In der häuslichen und engen Umgebung: ja, find ich schon. Er sagt, was Sache ist. Wir kennen ihn. Wir wissen, dass er niemand verletzen möchte. Wenn man es nicht persönlich nimmt, vereinfacht es viele Dinge. (Allerdings klappt das auch nicht immer, und wir nehmen es auch zu Hause manchmal persönlich. Aber wir werden besser!) In einem dazu passenden privaten Umfeld kann das tatsächlich ein Vorteil sein und bleiben. Na bitte.
Draußen: geht so. Neulich sagt er zu einem – ihm tatsächlich sehr nahestehenden, deutlich jüngeren und fußballbegeisterten Kind – „Du bist kein guter Fußballer, und du wirst auch nie einer werden“
Oh Gott.
Die Mutter des armes Tropfes spricht mich hinterher darauf an. Der kleine Kerl ist zu recht todtraurig und weiß das gar nicht einzuordnen.
Ich spreche natürlich meinen Großen darauf an. Er guckt ganz irritiert. Das ist doch die Wahrheit. Er weiß gar nicht, was ich von ihm will, als ich ihm sage, dass der andere jetzt echt unglücklich ist. Mein Großer ist daraufhin irgendwie betroffen. Aber irritiert bleibt er. Es ist doch ein Fakt. Aber der Junge wird dich bald nicht mehr mögen und sich vermutlich auch nicht mehr mit dir zum Fußball treffen wollen. – Aber warum?? Ich bin doch nicht schuld daran, dass er kein guter Fußballer ist!
Ja. Das stimmt. Seufz. So kommen wir nicht weiter.
Also. Für mich ist hier kein Vorteil erkennbar. Anstelle einer neudeutschen Win-win-Situation haben wir hier eine Lose-lose-lose-lose-Situation. Zwei Mütter und zwei Jungs sind betrübt oder irritiert oder beides.
Was aber, wenn er Fußballtrainer wäre? Dann muß man in meiner Vorstellung in der Lage sein, solche Entscheidungen nicht nur auszusprechen, sondern es kann ein Vorteil für ihn Selbst sein, wenn er sich hinterher die vielleicht sehr negativen Reaktionen des Umfelds nicht „zu Herzen nimmt“, sondern einfach gar nicht versteht. Ob das nun ein Vorteil für die anderen ist, weiß ich nicht, aber für ihn: In einem dazu passenden beruflichen Umfeld – ja, könnte sein. Na bitte.
So richtig zufrieden bin ich aber nicht. Ich wollte doch heute Vorteile (m)eines Aspergers finden. Nicht solche, die in passenden Umfeldern welche werden könnten, und nicht die, die man in Büchern und Filmen findet. Sondern echte. Die tatsächlich stattfinden und für ihn im Alltag wirksam und erkennbar sind. Gewissermaßen eine Belohnung für die Quälerei durch den „neurotypischen (Schul)Alltag“.
Fehlanzeige?
Dann fällt mir noch was auf: er hat erstmalig sein „Asperger-Gehirn“ nicht nur thematisiert, sondern verbalisiert, dass ER einen Vorteil erkennen kann. Dass ER glaubt, dass sein Anders-Sein ihm auf dem Weg zu seinem Traum helfen kann. Das ist doch eine tolle Vision von sich selbst! Wenn an der Theorie der Self-Fulfilling-Prophecy etwas dran ist, dann stimmt mich der Teil sehr hoffnungsvoll und macht mich froh für ihn! Dann will ich jetzt erstmal auch zufrieden sein.
Liebe K, wieder einmal mehr ein spannender und lehrreicher Beitrag über unseren Asperger-Enkel und darüber hinaus.