Gedankenspiele mit der Hilfe von Elly.autismmom.and.family
Sich mit anderen zu vergleichen ist ja selten eine gute Idee. Wenn aber mein Großer nach einer eher kleinen Flugreise abends am Ankunftsort eine Stunde weinend und schluchzend neben mir liegt, sich gar nicht mehr beruhigen kann und die ganze Außenwelt dafür verantwortlich macht, dann hilft es mir, zu lesen, dass auch andere andere Familien immer wieder an die Grenzen kommen, wenn es um nicht viel mehr als um „Normalität“ geht.
Und Ehrlich gesagt: ich habs wieder nicht kommen sehen. Wir durften nun endlich in den Urlaub fliegen, es hat alles geklappt – das erste Mal echt raus, seitdem das Coronavirus über Nacht unsere Welt verändert hat. Dank meiner Eltern wartet am traumhaftesten aller Ankunftsorte nach gut zwei Stunden Flug das traumhafteste Domizil, das man erreichen kann, speziell wenn man nur mit der Handtasche eingestiegen ist. Die perfekte Mischung aus in den Urlaub fliegen und nach Hause kommen im gleichen Moment.
Aber der Streß hat dann eben doch für einen Overload bei meinem Großen gereicht: Ich konnte vorher kein ausreichend klares Bild von der Situation am Flughafen zeichnen, ich konnte nicht beantworten, ob es im Flugzeug Essen und Getränke geben wird, und ich hab mir selbst so viele Fragen zu dieser Reise gestellt (wie viel eher müssen wir jetzt wirklich am Flughafen sein, wird die Einreise dann tatsächlich unkompliziert…), die ich offenbar hätte bei mir behalten sollen. Ich weiß doch eigentlich, was diese Ungewissheit mit ihm macht. Welchen Streß das alles für ihn bedeutet. Und doch hat es mich dann wieder kalt erwischt. Ich weiß es, und weiß es auch nicht. Es ist nicht „in mir“, es ist für mich nur eine gelernte Vokabel, die in dem Moment in der Ablage bleibt, weil ich noch Überweisungen mache, Mails schreibe, zum Briefkasten muss, die Sonnenbrille suche, wenigstens ein Cap für den Kleinen einpacke und so. Wie das Wetter für meinen Großen eine Vokabel bleibt, und er dann halt bei 6°C unter Null vergisst, dass Winter ist, weil doch die Sonne scheint.
Und so stehen wir uns regelmäßig wie Fremde gegenüber. From a different Planet eben.
Wünsche ich mir das manchmal anders? JA!
Was wäre, wenn es „in mir“ wäre und keine Vokabel, an die ich mich erinnern muß? Wenn ich seine Wahrnehmung teilen würde? Wenn mir das Tageslicht morgens körperlichen Schmerz zufügen würde, wenn mir das permanente Ankauen von Kleidung Halt geben würde, wenn mir die Zusicherung des bekannten Speisenangebots im Flugzeug so viel Sicherheit geben würde, dass ich meinen Rucksack selber packen könnte, wenn ich mich entspannen würde, weil ich jemandem stundenlang die neuen Erkenntnisse zu meinem Spezialthema erzählen darf, wenn ich in Ruhe weiteressen könnte, nachdem ich Teller und Glas in einer bestimmten Reihenfolge mit den Knöcheln meiner Finger berührt hätte, wenn hungrig und satt das gleiche Gefühl wären, und wenn ich abends einfach nicht einschlafen könnte, weil die Rituale nicht eingehalten wurden – was wäre dann? Dann wäre ich vielleicht auch Aspergerin und würde mich meinem Großen ganz nah, und der Welt ganz fremd fühlen.
So wie Elly. Ich kenne sie von Instagram, wo sie mich als Elly.autismmom.and.family mit ihren Berichten fasziniert. Sie erzählt dort von alltäglichen Situationen, und ich erkenne regelmäßig so vieles davon wieder. Hier erlaube ich mir, zu vergleichen. Es macht mich nicht unzufrieden, es beruhigt mich. Ich bekomme über diese Vergleiche Gewissheit, dass ich mir das nicht alles einbilde und alles nur viel zu genau nehme, oder „dass in anderen Familien doch auch nicht immer alles rund läuft“ und ich einfach nur ein bisschen hysterisch bin.
Aber bei einigen ihrer Beschreibungen habe ich auch schon mal gestutzt und sie irgendwann angeschrieben. Ich hab einfach mal gefragt: wer ist denn bei euch autistisch??
Sie hat schnell geantwortet: ihre beiden Söhne, 9 und 12, sind Asperger-Autisten.
Und sie auch.
Sie auch?? Irre.
Und ihr Mann? Wahrscheinlich auch. Glauben sie beide, jetzt, wo sie so viel darüber wissen. Einen weiteren Test brauchen sie im Moment nicht, wozu.
Aber seit wann weiß Elly, dass sie auch autistisch ist? Noch nicht lange, schreibt sie mir, erst ein paar Monate. Es kam ihr irgendwann komisch vor, ihr blindes Verständnis für ihre Kinder. Sie spürt den drohenden Overload und sie weiß, dass man „kompensieren“ muss, um sich wieder besser zu fühlen. Sie weiß es nicht nur, es ist in ihr.
„Ich habe das Gefühl, ich verstehe meine Jungs blind. Ich fühle es regelrecht. Wir fühlen sehr ähnlich. Die ganzen Reize, die auf einen einprasseln wenn man in Stress gerät sind nicht ausblendbar. Als wenn man 5 Radios mit unterschiedlichen Sendern auf volle Lautstärke dreht. Dazu die Gerüche, als wäre man in einer Douglasfiliale und die unterschiedlichen Lichter von einer Diskothek, bis noch heller und greller. Zu viel.“
War sie denn überrascht nach dem Ergebnis? Ja, irgendwie dann doch. Aber sie versteht jetzt vieles besser. Ihr eigenes Leben im Rückblick zum Beispiel. Warum viele Dinge so gar nicht gradlinig gelaufen sind, weshalb sie bei Problemen immer krank wurde, an so vielen Tagen in Schule und Ausbildung aussetzen musste, und warum sie sich so gerne an festen Strukturen festhält. Und sie weiß jetzt, woher ihr blindes Verständnis für ihre Jungs kommt, und warum es anderen nicht so geht.
Darum beneide ich Elly. Um ihre Gewissheit, dass sie ihre Kinder wirklich versteht, darum, dass es „in ihr“ ist. Sie wird auf dem Flughafen vermutlich nicht wütend, so wie ich, wenn einer ihrer Jungs immer sturköpfiger und schlechter gelaunt wird. Sie beschimpft ihn dann vermutlich nicht als undankbar, weil man doch jetzt schließlich in den Urlaub führe, und die Vorbereitungen dazu wirklich sehr nervig waren. Sie würde wohl fühlen, dass es einfach zu viele Reize sind, von denen er versucht, sich zurückzuziehen, und dass jetzt jede zusätzliche Ansprache oder Aufforderung, sich gefälligst „normal“ zu benehmen, zu nichts weiter führen als zum Overload. Ich weiß es hinterher. Sie spürt es vorher.
Und dann ist da noch Uwe. Uwe ist „der Leuchtturm“ in ihrer Familie, schreibt mir Elly. Der Vierbeiner spürt, wenn es einem Familienmitglied nicht gut geht, wenn er oder sie überreizt oder traurig ist. Ellys 12jähriger zum Beispiel wird regelmäßig Opfer der cruden Mobbing-Lust seiner Mitschüler. „Zu sensibel, zu ehrlich und so gar nicht skrupellos“ beschreibt Elly ihren Sohn. Da ist Frustration natürlich vorprogrammiert. Das spürt Uwe, geht hin, legt sich dazu und lässt sich streicheln. Ebenso spürt er, wenn die innere Unruhe zu brodeln beginnt, und er scheint es zu verstehen, im richtigen Moment die überreizte Aufmerksamkeit eines Familienmitglieds auf sich zu ziehen und in fokussierte Ruhe umzuwandeln.
Uwe schließt den Kreis, so scheint es mir, wenn ich Ellys Erzählungen lese. Es fasziniert mich, was sie aus ihrem Alltag erzählt. Aber so richtig beeindruckend finde ich, wie sie ja nicht nur täglich ihre Kinder durch ein System manövrieren muss, in dem sie Schwierigkeiten haben, sondern dass sie ja auch selbst anders ist und dort irgendwie bestehen muss.
Einer echter Vergleich mit anderen ist selten eine gute Idee, das sagte ich ja bereits. Aber ich gucke gerne nicht nur auf Ellys, sondern auch auf andere Familien und überlege mir, was ich davon aufnehmen könnte. Den Leuchtturm zum Beispiel. Ich vermute, Elly wird Uwe behalten wollen, aber ich kann meiner Familie ja einen eigenen Leuchtturm suchen. Vielleicht haben wir den schon und ich sehe ihn einfach nicht? Vielleicht war Willy, die Katze, die uns so hartnäckig zugelaufen ist, die sich monatelang bei uns regelrecht eingeklagt hat, bis ich sie wenigstens in der Küche geduldet habe, ein Leuchtturm? (Heute leuchtet Willy im Himmel) Vielleicht schließt bei uns jemand oder etwas anderes den Kreis – dieses Bild mag ich einfach.
Wie gesagt, befinden wir uns grade im traumhaftesten aller Domizile, und ich kann mich in Ruhe auf Gedankenspiele einlassen, die sich um Leuchttürme und geschlossene Kreise drehen. Und hoffe, dass das „normal“ ist.