Oder das fehlerhafte Puzzleteil
Für heute wollte ich eigentlich einen ganz anderen Artikel schreiben. Einen Kampf-Artikel! Darüber, dass Autismus nicht gesehen und verstanden wird, und wie ungerecht das ist, weil man einem Kind mit Gehbehinderung auch nicht im Sportunterricht sagt: jetzt reiß dich mal zusammen und versuch, so schnell zu laufen, wie die anderen. Und einem Kind mit Sehbehinderung wird man auch nicht die Sehhilfe wegnehmen, damit es im Unterricht nicht einen vermeintlichen Vorteil den anderen gegenüber hat. Warum wird es autistischen Kindern dann so schwer gemacht, die Unterstützung zu bekommen, die sie benötigen, damit sie zB in der Schule so aufgestellt sind, wie ihre „normalen“ Mitschüler?
Weil man Autismus nicht sieht. Er ist schwer zu erkennen. Und er ist vor allem in seiner facettenreichen Ausprägung sehr schwer zu begreifen. Es ist andererseits auch wirklich nicht leicht, Autismus und die damit verbundenen Probleme zu vermitteln. Auch Leute, die sich damit auskennen, haben oft mit der Komplexität dieser „Störung“ zu kämpfen.
Es braucht den Kampf für die Sichtbarkeit tatsächlich! Autismus muss verständlicher gemacht werden. Für die Betroffenen, für die Familie und Freunde und für die, die sich mit ihnen „im System“ bewegen müssen. Für Asperger-Autisten gibt es zum Beispiel oft nur die Möglichkeit, eine reguläre Schule zu besuchen. Für meinen Großen käme eine Sonderschule (leider?) gar nicht in Frage. Es gibt nicht so viele Plätze an einer spezialisierten Schule, und die, die es gibt, sind für diejenigen reserviert, bei denen beispielsweise die Zwangsstörungen oder andere Facetten des Autismus deutlich ausgeprägter sind als bei meinem Sohn. Das ist richtig so. Mein Sohn hat ja eine Chance, bei guter Inklusion eine reguläre Schule zu besuchen, und diese Schule hat eine theoretische Chance, einen Asperger-Autisten erfolgreich zu einem Schulabschluss zu führen. Bei guter Inklusion. Bei vorhandener Grundkenntnis über (Asperger-)Autismus.
Ich beschwere mich oft über die, deren Hilfe wir eigentlich dringend benötigen, und die sich nicht in unsere Situation hineinversetzen können. Sie scheinen unsere Probleme einfach nicht recht anzuerkennen. Wieso helfen sie uns nicht so, wie wir es bräuchten? Überall stoßen wir an die Grenzen des Systems, so kommen wir nicht weiter! Sie dürfen uns nicht alleine lassen, sie müssen uns helfen, damit wir bestehen können. Wie soll ein autistisches Kind einem normalen Schulunterricht folgen, wenn „die“ unsere Probleme nicht verstehen und anerkennen wollen?!
Warum ist denn das so schwer?? Wir Eltern fangen gefühlt jeden Tag wieder von vorne mit den Erklärungen und den Vermittlungen an, das geht nicht, es muss eine Grundkenntnis und ein Grundverständnis geben.
Und so lamentiere und beschwere ich mich tagtäglich vor mich hin. Und befürchte langsam, dass ich es mir damit einerseits zu einfach mache, und ich andererseits so auch nicht wirklich ans Ziel komme.
Ich selbst bin „neurotypisch“ (=normal), mein Sohn ist Autist. Die, über die ich mich beschwere, sind Neurotypen. Zumindest vermute ich das bei den meisten. Wenn ich also erfolgreich damit sein will, beide Seiten zusammenzuführen, wenn ich zwischen den Welten vermitteln und die Bedürfnisse richtig von einem zum anderen „übersetzen“ möchte, dann darf ich nicht nur die Brille der Mutter eines autistischen Kindes, das Hilfe benötigt, aufsetzen. Ich muss auch die Probleme der anderen Seite sehen und verstehen. Und zwar wirklich sehen und verstehen.
Also bin ich jetzt schon wieder dran, oder wie??
Entschuldigung, ich stehe jeden Morgen um 05.30h auf, kümmere mich um Anträge für Unterstützungsleistungen, hole Gutachten und Stellungnahmen ein, suche Anwälte, die mich zu spezifischen Fragen beraten können. Korrespondiere mit Jugendämtern, Schulämtern und Schulen, mit ehemaligen Schulhelfern und auch mit zukünftigen, besorge Materialien, kümmere mich um ein Zimmer, in dem ich mit meinem Großen schlafen kann, damit er wenigstens am Tage an Klassenfahrten teilnehmen kann, er aber gleichzeitig einen Rückzugsort und eine Vertrauensperson hat, undsoweiterundsofort.
Was denn jetzt bitte noch??
Und hier die Erkenntnis des Ganzen: auf der A-Seite hab ich alles getan. Ich habe fertig. Daran liegt es nicht. Es liegt an der B-Seite. Meine Bemühungen führen nicht ans Ziel, weil die Form des Puzzleteils A, das ich geschnitzt habe, nicht zur Form des gegenüberliegenden Puzzleteils B passt. Es wurde (noch) nicht passend geschnitzt. Sie passen nicht aneinander.
Darüber kann ich jetzt in eine tiefe Depression verfallen. Oder ich kann mein Schnitzzeug packen, die Seiten wechseln und das B-Teil schnitzen und feilen gehen.
Wie mache ich das denn jetzt?
Vermutlich muss ich mir erstmal ein paar kluge Fragen stellen (die ich natürlich beantworten muss). Sowas wie:
- Wer hält denn das Puzzleteil B? (Das ist die berühmte Frage nach der Zielgruppe)
- Haben die einen gemeinsamen Nenner an Grundkenntnis, auf den ich aufsetzen kann?
- Nachdem ich weiß, um wen es geht und was die wissen – WIE könnte ich denen denn dann weitere Kenntnis und Verständnis vermitteln??
- Wie kann ich die überhaupt motivieren, mehr Kenntnis zu erwerben?
Fragen über Fragen. Wie immer.
Ist das vielleicht ein zu hoch gestecktes Projekt? Nein, ich glaube nicht. Ich kann beginnen, und gucken, wie weit ich komme. Ich kann Mitstreiter auf dem Weg einsammeln. Es ist ja auch nicht so, dass ich das Rad neu erfinden muss. Es gibt so viele, die sich damit beschäftigen und dafür kämpfen (müssen).
Nun ist es kein Kampfartikel geworden, sondern ein „Motivationsbeitrag“. An mich selbst. Wie üblich ist mir beim Schreiben so vieles klar geworden. Ich war frustriert und wütend, weil ich nicht weiterkomme. Jetzt bin ich wieder motiviert, weil ich den für den Moment richtigen Anknüpfungspunkt gefunden habe.
Ich geb ja eh nicht auf. Thumbs Up!
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