Brief an mein Kind
„Liebster L.,
während ich dir diese Zeilen schreibe, wiegt mein Herz ungefähr eine Tonne.
Bis wir wussten, dass Du ein Asperger bist, habe ich sehr viel falsch gemacht. Dich ins Leben geschubst, in dem festen Glauben, ich müsste dich nur doller schubsen, damit du dich darin wohl fühlst. Dabei hast du mir so viele Zeichen gegeben, dass Du nicht einfach ins Leben gehen kannst, sondern eng bei mir bleiben möchtest, und ich habe dich nicht verstanden. Wie kann eine Mutter ihr Kind nicht verstehen? Gehört und gesehen habe ich, aber nicht verstanden. Stattdessen habe ich Dich mit Anforderungen beladen, die überhaupt nicht für dich gemacht sind.
Mit der Diagnose habe ich dann endlich begonnen, zu verstehen, und ich mache alles wieder gut. Ich habe dieses Buch von Henry und Kai gelesen*. Kai ist Autist und sein Vater Henry hat den Autismus erforscht. Auch Henry hat alles falsch gemacht. Henry schreibt, dass ihr nichts vergesst, dass ihr aber vielleicht verzeiht.
Der weltschönste und -kleinste Kindergarten hat dir damals gutgetan. Kurz vor deinem dritten Geburtstag habe ich dich dort eingewöhnt und du bist gerne gegangen. Als du vier wurdest, solltest du mit auf die Kindergartenreise. Du wolltest nicht, aber ich habe deinen Koffer gepackt. Wenn du erstmal dort bist, wird es dir schon gefallen. Am Abend zuvor bekamst du Scharlach. Bis heute sagst du mir, dass du Scharlach nur bekommen hast, damit du nicht mitfahren musstest. Meine innere Stimme sagte mir schon damals, dass du recht hast. Meine tough-mummy-Stimme sagte: „quatsch. Er ist ein normales Kind und hätte sich gut zurechtgefunden. Das Scharlach war Pech.“
Mit fünf begann die Vorschule im Kindergarten. Ihr wart ganze vier Vorschüler. Du warst gut eingebunden und nur dadurch auffällig, dass du „immer so reif“ warst. So „erwachsen“ und gerne mit den Erzieherinnen zusammen. Der Köchin hast du gerne beim Kochen geholfen, und du hast alle Regeln befolgt. Du hattest Freunde und bist zu Geburtstagen gegangen. Allerdings bin ich immer dabei geblieben… es kam mir merkwürdig vor, aber das habe ich wenigstens getan.
Als du fünfeinhalb warst, kam die nächste Kindergartenreise. Wieder wolltest du nicht mit, wieder habe ich deinen Koffer gepackt, dir gesagt, dass es dir gefallen wird, daran habe ich fest geglaubt. Als ich dich hingebracht habe, habe ich dir gut zugeredet, und ich weiß, dass du es versuchen wolltest. Bestimmt für mich, damit ich mich freue. Als ich dann ging, hast du so so doll geweint, nein, geschrien, wie um dein Leben, laut geschrien, sie haben dich zu zweit festhalten müssen. Du hast dich gewehrt, um dich geschlagen und so furchtbar geschrien. In meiner Panik bin ich zum Auto gelaufen und auch die Erzieherinnen – die dich liebten, mein Schatz, das weiß ich – haben nicht gemerkt, dass es falsch ist. Ich mache ihnen keinen Vorwurf. ICH hätte es wissen müssen. Ich war sicher, dass du „normal“ bist, und dass es dir dann schon gefallen würde, wie allen anderen Kindern auch. Wenn ich das schreibe, wiegt mein Herz so schwer, weil ich einfach nicht verstehe, wieso ich nicht gesagt habe: „Stopp! Das ist kein normales Weinen, das ist die pure Angst, das Kind hat Panik, es bleibt bei mir“. Ich verstehe es nicht. Ich habe im Auto furchtbar geweint, aber ich dachte, es geht vorbei und du kommst als glücklicher und stolzer Junge wieder.
Dieser Tag muss dein Urvertrauen schwer erschüttert haben. Du hast um dein Leben geschrien und ich, Deine Mutter, bin gegangen.
Du kamst als unglückliches Kind zurück. Auf keinem Bild der Reise lächelst du. Nachdem ich dich abgeholt hatte, saßen wir im Wohnzimmer und du hast eine Stunde lang bitterlich geweint.
Danach fing dein erster Tic an. Habitueller Husten. Bis das klar war, hast du viele Stunden inhaliert und literweise Hustensaft zu dir genommen.
Mit Schuleintritt wurde alles noch schlimmer. Am Anfang ging es noch, bald aber wurde klar, dass du dich mit allem schwertust, und auch die Lehrerin bat bald um ein Gespräch.
Wieder kam eine Reise. Wieder habe ich Deinen Koffer gepackt. Als du von dieser ersten Klassenfahrt wiederkamst, habe ich dich nicht mehr erkannt. Diesmal habe ICH geweint. Wo war mein Kind hin. Und wer ist dieser verwirrte Mensch mit den Tics? Was hab ich dir angetan.
Diese Reisen haben Schäden auf deiner Seele hinterlassen. Mein Kind, es tut mir so leid. Wenn ich geahnt hätte, was ich dir antue, ich hätte es nicht getan. Wenn ich es rückgängig machen könnte, ich würde es. Ich werde mir das nicht verzeihen. Du vielleicht, aber es ist auch egal. Das wichtigste ist, dass du mir wieder vertraust und dich bei mir sicher fühlst. Ich will alles dafür tun.
Mama.“
*„Der Junge, der zu viel fühlte“ von Lorenz Wagner