Herr K. ist im zweiten Jahr Klassenlehrer meines Großen. Es handelt sich um eine kleine Schule mit kleinen Klassen. Einige Monate bevor Herr K. sein Klassenlehrer wurde, haben wir die Diagnose erhalten. Mein Großer hat seinem zukünftigen Klassenlehrer zum Start eine kleine Fibel überreicht, die „Asperger – leicht erklärt für Klassenlehrer“ heißt.
Schulalltag mit einem Asperger in der Klasse
„Seit vier Jahren arbeite ich an der Schule, die L. besucht. Er ist nun zwei Jahre länger da als ich. Kennengelernt habe ich ihn vor ungefähr vier Jahren. Der Drittklässler hat Biss und Humor, das fällt mir sofort auf. Korrigiert mich, wenn ich ihm einen Spitznamen gebe: „Ich heiße L.!“, sagt er bestimmt und auffordernd. Ich sage den Spitznamen, weil ich gerade einen Schüler in der anderen Klasse habe der auch L. heißt, den aber alle beim Spitznamen nennen. Ich versuche, den Spitznamen zu etablieren, scheitere aber grandios. Nie wieder habe ich den Spitznamen zu ihm gesagt. Er meint es ernst. Das ist mir sofort bewusst geworden. Es ist nicht in seinem Sinne.
Am Mittagstisch erzählt er immer viel. Erst später fällt mir auf, dass er hauptsächlich mit Erwachsenen spricht. Ich unterhalte mich gerne mit ihm. Er versteht Ironie und Sarkasmus. Das gefällt mir. Schüler*Innen lachen sonst frühestens ab der zweiten Hälfte der fünften Klasse über ironische Anspielungen. „Mmh die kreolische Reispfanne schmeckt ja besonders lecker.“ Sage ich mit ironischem Unterton. Die Kinder am Tisch unisono: „Nein gar nicht! Die schmeckt nicht. Wie können Sie so etwas mögen?!“ Nur L. lacht und bestätigt: „Mir schmeckt sie auch nicht.“ und schabt unkoordiniert mit dem Löffel die Reste aus seinem Teller in den roten Lebensmitteleimer.
„Hallo!“ sagt L., freundlich wie immer, steht neben mir bei der Tür zum Lehrer*Innenzimmer, wartet bis ich seinen Gruß erwidere. Normalerweise mache ich mit. Grüße zurück. Doch zu wenig Koffein in der Blutbahn, unterzuckert, leicht gestresst dank durchgehender Vertretung und Pausenaufsicht, mit einer Hand Ordner balancierend und mit der anderen Hand den Schlüssel aus der Hosentasche puhlend sage ich monoton: „L. wir haben uns heute bestimmt schon fünfmal gesehen. Du musst nicht jedesmal Hallo sagen wenn wir uns über den Weg laufen.“ – „Ich weiß“, sagt er freundlich, fast schon amüsiert, „tschüss Herr Schneider!“ Kopfschüttelnd gehe ich ins Lehrer*Innenzimmer lege, nein, lasse alles auf den Tisch fallen und amüsiere mich darüber was gerade passiert ist. Das ist nun etwa ein Jahr her. Noch heute sagt er jedes Mal „Hallo*“ wenn wir uns in der Schule über den Weg laufen. Auch wenn es zum zwölften Male ist…
So amüsant diese drei Anekdoten sind, merke ich auch immer wieder, dass Geräusche viel störender für ihn sein können als für mich. Da muss ich und die Klasse Rücksicht nehmen. Auch, dass ich mich genau ausdrücken muss, um Missverständnisse und Schlupflöcher in meinen Aussagen zu vermeiden. Und Arbeitsaufträge klar erteilen muss. Genau aufzuklären habe, was uns bei Ausflügen erwartet, was für Ziele wir in Lerneinheiten bearbeiten. Absolute Transparenz gewährleisten. Glasklare Ansagen: WER – WIE – WAS – WO – WANN – und vor allem – WARUM?! Das mag als zusätzlicher Aufwand erscheinen, lasse ich aber nicht gelten. Erkenne ich gerade in der Rolle als Lehrperson, dass alle, die gesamte Klasse, von dieser Transparenz, von dieser Klarheit und Struktur profitieren. Am Ende dieses Schuljahres, werde ich mehr von L. gelernt haben als er von mir. Da bin ich mir sicher.“
Mein Großer möchte auch etwas zu seinem Schulalltag und seinem Klassenlehrer Herrn K. sagen
„Ich find Schule manchmal langweilig. Aber Mathe ist gut. Herr K. kann das einfach richtig gut erklären. Wir haben noch Musik und Kunst bei ihm, aber das sind ja keine richtigen Fächer. Aber Herr K. ist so ein cooler Typ, dass sogar Kunst manchmal Spaß macht. In Musik singen wir. Wieso? Versteh ich nicht. Die Klasse ist einfach toll, deswegen fühle ich mich wohl. Alle akzeptieren jeden so, wie er eben ist. Ich glaub nicht, dass jemand ein Problem damit hat, dass ich Asperger bin. Zwischen Schulhilfe und Lehrern klappt alles richtig gut, das läuft super.“
Wie wundervoll der Lehrer über L. schreibt und wie schön dass er daraus zieht, dass ER derjenige ist, der lernt!!!