oder: „Autisten interessieren sich nicht für andere“?
Heute Morgen stand ich (viel zu lange) unter der Dusche und habe mir das (viel zu warme) Wasser über Haut und Haar laufen lassen. Angestrengt versuchte ich, die Gedanken an Wasser- und Zeitverschwendung zu verdrängen, und wurde dadurch prompt fast zwei Jahre zurückversetzt. Da stand ich mit den eben gleichen Gedanken unter der Dusche. Es war mein Geburtstag, und mein Mann war aus beruflichen Gründen nicht da. Nach dem Frühstück hatte ich mir von den Mäusen gewünscht, dass ich ungestört duschen darf.
Durch den plötzlichen Luftzug wurde mir klar, dass die Tür aufging und in meinem Kopf rief schon alles „kann ich denn nicht mal…!“, „hab ich nicht gesagt, dass…!“ Bevor ich das ausrufen konnte, stand mein Großer schon mit dieser unglaublich bezaubernden Torte vor mir! Ich war gerührt! Wie hatte er das so schnell hinbekommen?? (Oh Gott, wie lange hatte ich geduscht!) Nass wie ich war, wurde ich bereits zum Probieren genötigt, noch bevor ich an a) den vielen Zucker und b) den Zustand der Küche denken konnte. (Naja, vielleicht parallel)
Wie passt denn das nun zu dieser Weisheit, dass sich Autisten nicht für andere interessieren? Hatte er beim Zubereiten der Torte eher daran gedacht, dass er auf diesem Weg ein Stück Kuchen bekommt als an meine Freude? Nein – das Strahlen in seinen Augen, als er meine Überraschung und meine Rührung sah, sagte etwas anderes! Hatte er einfach Lust darauf, eine Torte zu backen? Nein – s. Antwort von grade eben.
Ich weiß nicht, ob sich Autisten für andere interessieren oder nicht (woher auch), aber ich weiß, dass sich MEIN SOHN für MICH interessiert. Für das, was ich empfinde, dafür, wie es mir geht. Vielleicht interessieren sich Autisten einfach anders für andere? Irgendwie „reiner“? Nicht so „gewichtend“?? Ich glaube, mein Großer interessiert sich sehr wohl für andere, aber er orientiert sich nicht so sehr an ihnen. Als ich mit ihm vor zwei Jahren auf Klassenreise ging, habe ich ihn vorher gefragt: „denkst du nicht, die anderen finden es komisch, wenn deine Mutter mit dabei ist?“; „Nein“, sagte er, „weshalb sollten sie das komisch finden?“ „Naja“ sagte ich „werden die sich nicht denken, dass das irgendwie merkwürdig ist, wenn ein fast 10jähriger Junge seine Mutter dabeihat und mit der auch noch in einer separaten Pension schläft?“ „Nein. Wieso sollten die das denken?“ (Wer sich jetzt nicht wundert, ist vielleicht Autist! ;o))
Drückt das jetzt Desinteresse aus? Oder beeinflusst ihn das einfach nicht? Ich würde letzteres denken, und ehrlich gesagt: was wäre mein Leben herrlich, wenn ich davon etwas abbekommen könnte! Das Hauptproblem meiner Pubertät – ach was! Das Hauptproblem meines Lebens! – hätte sich doch damit in Luft aufgelöst!
Allerdings wird mir, je länger ich darüber nachdenke und dazu schreibe, auch klar, warum mein Großer z. B. Schulhilfe benötigt. Habe ich mir noch größte Mühe gegeben, mein Heft ordentlich zu führen, damit mein von mir angebeteter Klassenlehrer der sechsten Klasse mir ein Blümchen, kombiniert mit einem „sehr schön, Katrin! Mach weiter so!“ ans Ende malt, ist das für meinen Sohn überhaupt kein Anreiz. Die Aufgabe muss logisch sein, sonst nix. Ob das jemand ordentlich oder gut findet, interessiert ihn einfach nicht. Da muss dann jemand fachkundiges (= Schulhilfe) dabei sein und dafür sorgen, dass etwas anderes als die berühmte extrinsische Motivation als Anreiz funktioniert. Und Teilhabehilfe ist offenbar auch wichtig für unseren Sohn, um gesellschaftliche Normen zu erlernen. Dem vierjährigen Jungen von damals ist (hoffentlich) mittlerweile verziehen, dass er den Eintrag ins Freundebuch des Vorschülers mit der Begründung, dass er ja nicht sein Freund sei, verweigerte. Aber ob eine entsprechende Situation mit 16 oder auch mit 36 Jahren auch noch einfach so vergessen werden kann, weiß ich nicht. Wenn er sich die mühsam erworbenen Bekanntschaften immer mit der Wahrheit versaut, weil er aus den angenommenen Empfindungen des Gegenübers keine Handlungsempfehlung ablesen kann, ist es ja auch nicht erstrebenswert. Und muss mühsam erlernt werden.
Und um noch einen Schritt weiterzugehen: ich bin gespannt, was passiert, wenn er sich nicht daran orientiert, dass die Kirschen in Nachbars Garten roter sind. So, wie ich meinen Großen kenne, wird es so sein. Er wird dem Nachbarn permanent zu seinen roten Kirschen gratulieren, aber seine eigenen werden ihn nicht interessieren. Zumindest nicht im Vergleich mit denen des Nachbarn. Wofür wird er sich dann interessieren? Und wird es etwas sein, wovon er leben kann? Wird er lauter schlaue Bücher schreiben, und sie dann vor Veröffentlichung zur Seite legen, weil es einfach nicht so wichtig ist, was „das Außen“ davon hält? Wird er lauter geniale Maschinen konstruieren, sie aber als Erinnerung behalten wollen, so wie jeder Popcornbehälter eines gelungenen Kinobesuchs aufgehoben werden muss? (Aus Platzgründen gibt es mittlerweile Lollies statt Popcorn)
All diese Fragen werden eines Tages beantwortet sein, zumindest für das Leben meines Sohnes. Bis dahin wünsche ich mir, dass ich noch viele Torten unter die Dusche bekomme – Motivation dahinter: egal!
😘
Liebe K., schon wieder ich. Auch hier finde ich mich mit meinem grossen Sohn wieder. Ich bin überzeugt, dass unser Grosser mich „lesen“ kann, was er bei anderen nicht oder nicht so gut ksnn. Er merkt, wenn ich traurig oder verärgert bin, fragt mich inzwischen sogar danach (es fiel mir so sehr auf, als er mich das erstemal fragte, ob ich traurig sei und warum), während er das bei anderen nicht kann. Ich erinnere mich an eine der ersten Tennisstunden – wir waren so froh, dass er vor ca. eineinhalb Jahren urplötzlich Tennis spielen wollte, wo wir ihn früher, als wir noch nicht wussten, was mit ihm los ist, zu allen möglichen Kursen und Vereinen schleppten, und er standhaft die Teilnahme an allen Aktivitäten verweigerte, wo er mit anderen zusammen etwas hätte machen müssen: Schwimmkurs, Fussball, Pfadfinder, konnte man alles vergessen. Jedenfalls sitze auch ich immer dabei und schaue stolz zu und habe am Anfang einmal beobachtet, wie der Trainer mit fuchtelnden Händen und wütendem Gedichtsausdruck heftig mit ihm geredet hat, aber als ich ihn danach fragte, ob der Trainer mit ihm geschimpft hätte, wusste er gar nicht, von was ich eigentlich rede, und als ich meinte, er hätte so wütend ausgesehen, meinte er, woher solle er denn wissen, ob der Trainer wütend war, er kenne ihn ja noch gar nicht und wüsste nicht, wie es aussieht, wenn er wütend ist. Erstens: er scheint die Gemütszustände der einzelnen Personen erst „lernen“ zu müssen (wie anstrengend muss das sein), und zweitens: wie angenehm muss das andererseits sein, wenn man sich nicht ständig Gedanken darüber machen muss, was der andere nun meint oder denkt, ob er vielleicht verärgert oder gelangweilt von einem ist, da beneide ich ihn fast ein bisschen. Aber auf jeden Fall interessiert er sich sehr wohl dafür, wie es anderen – zumindest ihm nahestehenden – geht, aber er ERKENNT es einfach viel schlechter (das ist vielleicht für Euch alle banal, aber diese Dinge am eigenen Sohn zu erkennen und zu verstehen, hat für mich eben nochmal eine andere Dimension, als es in einem Buch zu lesen). So, jetzt lese ich weiter 😊