| Zwangshandlungen bei Aspergern |
Unser Großer hat leichte motorische und vokale „Ticks“, zumindest nennen wir das zu Hause so. Korrekt bezeichnet wären es vermutlich eher Zwangshandlungen oder stereotype Verhaltensweisen, aber mein Großer nennt sie Ticks, also machen wir das auch.
Ehrlich gesagt: viele dieser Ticks treiben uns in den Wahnsinn: entweder wird dauergehüstelt, was sich eher wie ein Bellen anhört und in Zeiten von Corona nicht grade gut ankommt, permanent gehüpft – egal, ob er sitzt, steht oder geht-, oder auch gerne halblaut im Stakkato gesummt. Gerne auch in Kombination…
Ich komme mir schlecht und ungerecht vor, wenn ich davon genervt bin. Aber es ist einfach anstrengend, wenn jemand mit einem in der Küche steht, der permanent leicht hüpft und dabei hüstelt. Ich komme mir auch jetzt schlecht vor, weil ich das überhaupt preisgebe, aber diese Zwangshandlungen sind so wichtig für ihn, und so wichtig für viele Menschen, die anders sind, dass ich es thematisieren möchte. Und sie sind ehrlich gesagt eh so offensichtlich, dass man es besser anspricht als ständig totschweigt.
Die Ausführung der Handlungen haben beruhigende und unterstützende Wirkung, sie dienen der Selbstregulation, und sie versetzen unseren tapferen Jungen manchmal auch erst in die Lage, die nächste geforderte Alltagshandlung durchzuführen. Manchmal MUSS er seinen Teller drei Mal mit dem Gelenk des mittleren Fingers an unterschiedlichen Stellen berühren, um sein Brot essen zu können, und MUSS fünfmal über die linke Schulter in die Sonne gucken, um weiter geradeaus laufen zu können. Für uns ist das völlig unverständlich und im Alltag auch anstrengend („schnell, schnell, warum guckst du nach hinten, wir müssen uns doch beeilen!“ und „was sollen denn die Leute denken, die uns entgegenkommen?“), aber für ihn ist die Durchführung essentiell. Es gibt unzählige kleine und große Handlungen, manche sichtbar und auffällig, und manche finden ganz verborgen statt.
Der erste „Tick“ trat mit fünf Jahren auf: dieser permanente, bellende Husten: zu Hause, in der Schule, im Auto, bei Trauungen (!), im Supermarkt, einfach immer. Es ist sein wichtigster Tick. Wir haben es anfangs gefühlte sieben Monate mit täglichem Inhalieren behandelt. Für ihn war das super, denn er durfte dabei immer eine Folge seines heroischen Feuerwehrmann-Vorbildes anschauen. Als der Husten überhaupt nicht wegging, und ich glücklicher Weise mal unseren Kinderarzt deswegen anrief, erwähnte er, dass es sich um einen „habituellen“ Husten handeln könnte… das Inhalieren haben wir damit eingestellt, der Husten ist geblieben.
Für mich als Mutter gehört das unweigerliche Bezeugen der Ticks zu den Momenten, in denen mir wieder mal klar wird, dass mein Kind und ich in unterschiedlichen Welten leben. Sie sind Teil der schmerzhaften Grenze zwischen seiner Welt und meiner. Ich wünsche mir – wie vermutlich jede Mutter und wahrscheinlich auch jeder Vater – eine intensive Nähe zu meinen Kindern, eine Art intuitive Verbindung, ein emotionales und gedankliches Band, das uns fest zusammenschweißt. Wenn ich meinen Großen bei seinen Ticks beobachte, strömt oft sehr viel Liebe zu diesem ungewöhnlichen Kind durch mein Herz, aber auch Wehmut und Schmerz, weil er dann so furchtbar weit weg ist, und ich nicht sicher bin, ob das feste Band das hält. Früher war mein grundsätzlicher Impuls, am Band zu ziehen, ihn zurückzuholen und zu sagen: „lass das Husten/Hüpfen/Summen! Sei normal!“ Heute weiß ich, dass das Band dabei Risse bekommt, und dass die einzige Lösung lautet: Band lockern, bis er wieder zieht.
Scheiß schwer.
Einmal hat er mir abends vor dem Einschlafen sehr lange von seinen Ticks erzählt. Welche Formen auftreten, warum er sie erfüllen muss, und vor allem DASS er sie erfüllen muss. Es gibt aus seiner Sicht keinen Ausweg. Er kann sich manchmal aus einem Tick befreien, wenn er einen anderen dafür ausführt. Es ist eine Qual, vor allem für ihn! Eine Qual, die für ihn dennoch eine wichtige Funktion erfüllt: er kann irgendwie „bei sich bleiben“. Mit etwas Abstand betrachtet sind die Erzählungen aus seiner Welt wirklich spannend und bereichernd, ich erfahre Dinge, die mir sonst völlig verborgen geblieben wären. Dennoch wäre es mir lieber, es wäre nicht MEIN Kind, das mir da von einer fernen Welt berichtet. Denn er erzählt ja von dort als Einwohner, und ich, seine Mama, bekomme allerhöchstens mal einen Besuchsschein.
Auslöser für neue Ticks sind zumindest bei uns immer Stresssituationen. Heute kann ich manchmal Stresssituationen vorhersehen und dann gucken, ob ich die für ihn vermeiden kann – das geht natürlich nicht immer. Eine Mathearbeit wird er absolvieren müssen, aber zu einem Tag der Offenen Tür kann ich auch ohne ihn gehen. Dennoch: die meisten Stresssituationen kann ich vorher gar nicht als solche identifizieren oder gar vermeiden: die plötzliche Umarmung einer nahestehenden Person, die Notwendigkeit, einen neuen Schulranzen auszusuchen, weil der alte einfach nicht mehr geht, oder ein Überraschungsgeschenk, wo man nicht weiß, was drin ist. (erraten: die 24 kleinen Adventskalendertütchen werden vorbesprochen – sicher ist sicher.)
Der erste Tick trat wie gesagt auf, als er fünf war, genauer gesagt nach der Kindergartenreise. Die Kindergartenreise gehört zu den dunkelsten Kapiteln unserer Geschichte, und ich werde ihr einen eigenen Beitrag widmen. Sie war offenbar der Auslöser für seinen ersten Tick, der uns bis heute begleitet: das bellende Hüsteln.
Dieser Beitrag hat zum ersten Mal ganz schön Überwindung gekostet. Da ich keine Autistin bin, ist mir eben leider nicht egal, was andere über mich und meine Kinder denken, und über Kinder mit Zwangsstörungen wird wahrscheinlich viel gedacht.
Immer, aber diesmal besonders, würde ich mich über Kommentare und Austausch dazu freuen, damit ich weiß, dass wir damit nicht alleine sind. Eigentlich weiß ich es, kann nämlich nicht sein.
Aber trotzdem – danke für eure (anonymen) Kommentare!
Liebste K, ein toller Beitrag, ich bin schon sehr gespannt auf den Bericht „nach der Kitareise“.
Was ich von euch denke? Ihr seid Beide großartig! Liebste Grüße, Steffi
Liebe K, ich habe gerade deinen heutigen Beitrag gelesen und bin mal wieder sehr beeindruckt: von deinem Schreibstil, von deiner Empathie einer so komplexen Krankheit gegenüber und von deiner Offenheit! Man spürt die Liebe zu deinem Großen in jedem Wort!
Freue mich jetzt schon auf nächsten Samstag, denn es interessiert mich nicht nur, es lehrt mich auch Vieles!
Sonnige Grüße,
L
OMG, ich dachte mein Kind hätte als einziges den Hustentick. Es treibt uns in den Wahnsinn. Er fängt an zu Husten und reizt dann den Hals so sehr, bis es ein alle 5 sek. lautes Bellen ist, als hätte er eine Lungenentzündung.
Liebste K, der Blog gestern war wieder so toll! So gut! Und so offen und ehrlich! Ich versuche es nachzuvollziehen und muss immer wieder feststellen, dass du es einem einfach toll erzählen kannst! Wo du deine ganze Energie für einen 24 Std Tag her nimmst- jeden Tag – bewundernswert! Ich habe davor soooo viel Respekt! Manchmal sage ich zu mir „Ich finde mein Kind so doof….kann sie nicht einfach…., warum ist sie so ….“ – wie kleinkariert von mir!
Euch weiter viel Kraft und ich freue mich schon jetzt auf nächsten Samstag!
Alles Liebe BiKi
Hallo, das Hüsteln kennen wir! Mein Sohn hatte es mit etwa 5/6 Jahren erstmal, auch wir haben inhaliert und waren bei unserer Kiä 😉 Mittlerweile (er ist 8) wurde es von einem sehr sehr lauten Schnalzen abgelöst… Danke für diesen tollen Blog! Franzisca
Liebe K, leider komme ich eineinhalb Jahre zu spät, aber ich habe Deinen Bericht mit höchstem Interesse gelesen, weil es uns mit unserem Grossen sehr ähnlich geht. Er hat mit Schulbeginn angefangen zu blinzeln, vund ich dachte erst, er sei vielleicht kurzsichtig, wusste aber gleichzeitig dass das nicht sein kann, da wir kurz zuvor zur Vorsorgeuntersuchung waren, eo er einen Visus von über 100 Prozent hatte, oder vielleicht trockene Augen, oder eine Bindehautentzündung… Dann kam irgendwann eine Art Räuspern, dann das Hüpfen, manchmal kam er kaum eine Treppe hoch, weil er bei jeder Stufe einmal hüpfen musste, und dieses Hüpfen übrigens fand ich soooo süüss, dass ich traurig war, als es weg war (und durch unangenehmere Tics ersetzt wurde)
Kürzlich habe ich von „Stimming“ gelesen und bin mir nun nicht so sicher, wo bei unserem nun die Grenze ist zwischen Tic und diesem Stimming, er scheint es schon in Zuständen von Anspannung zu machen, aber auch wenn er entspannt ist. Mein Mann ist zeitweise sehr genervt davon und schimpft gelegentlich auch mit ihm, er soll das sein lassen usw, was kurze Zeit auch geht, aber ich bekomme dann auch gelegentlich Streit mit ihm, weil ich weiss (?) dass das keinen Sinn macht, weil er es ja nicht absichtlich macht und nur schwer unterdrücken kann. Witzigerweise war ich auch selber nicht selten genervt davon, und auch besorgt, als er einmal eine Zeitlang eine Art Röhren hatte, und ich Angst hatte, dass das zu Problemen in der Schule führen könnte, aber erstens war es gottseidank schnell wieder weg, und zweitens habe ich die unvergleichliche Eigenschaft, solche Dinge nach einiger Zeit halbwegs zu vergessen… Also Ihr seid definitiv nicht allein! Wir kennen das ganz genauso! Und auch ich bin froh zu lesen, dass WIR nicht alleine sind.