Und Mama hat mal wieder nix kapiert
Ich dachte schon, ich kenne mein Kind, aber mal wieder Pustekuchen! Als Elternteil eines anderen Kindes muss ich noch so viel lernen…Zum Glück weiß mein Großer ziemlich gut über sich Bescheid, und zum Glück gibt es Hilfsangebote.
Ein entsprechend großes Glück für uns ist die sog. Teilhabehilfe, auch Eingliederungshilfe genannt. (Ich bin ja eigentlich ein Fan der deutschen Sprache, aber bei Worten wie diesen steig ich aus…) Heute weiß ich nicht mehr, wie ich von dem Angebot erfahren habe, aber ich bin gottfroh, dass es das gibt – und die Ergebnisse sprechen für sich.
Jeder Mensch, zumindest in Deutschland, mit einer Behinderung (Ist Autismus eine Behinderung? Im Wortsinn sicher, denn Autisten fühlen sich vermutlich häufig daran behindert, unter uns Neurotypen so zu leben, wie sie sich das vorstellen. Und solange es mehr Neurotypen als Autisten gibt..sind diese wohl behindert?! Oder nicht?!) – jedenfalls hat man Anspruch auf jemand, der einen darin unterstützt, am Leben teilzuhaben. Aha. Und wie sieht das aus?
Bei uns ist der Regionale soziale Dienst des Jugendamts am Wohnort zuständig. Wir mussten das Gutachten der Psychiaterin einreichen, die die Asperger-Diagnose stellte und damit bestätigte, dass unser großer, tapferer Junge „…den Regelungen des §35a SGB VIII unterliegt, da von der Gefahr einer seelischen Behinderung für die Dauer von mehr als sechs Monaten auszugehen ist.“. Außerdem wurde eine Stellungnahme des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD) gefordert. Ich glaube, allein da mussten wir drei Mal hin.
Ich möchte hier aber mal betonen, wie ausgesprochen angenehm und konstruktiv all die Menschen waren und sind, die uns auf dem bürokratischen Weg begegneten. Alle waren rücksichtsvoll und einfühlsam und haben mit uns die Hilfsangebote besprochen. Nie wurden unsere Probleme in Frage gestellt, und nie hatte ich das Gefühl, dass uns jemand „prüfen“ will, um dann doch noch Hilfe abzulehnen. Viel eher wurde alles getan, um die bürokratischen Voraussetzungen zu erfüllen, damit uns Hilfe zukommen kann.
Dennoch möchte ich an dieser Stelle eine Frage stellen, die mich sehr beschäftigt: ist es wirklich nötig, die betroffenen Kinder immer mitzuschleppen, um vor dritten Fremden über dessen angebliche Fehlentwicklung zu sprechen?! Die Kinder spüren doch schon so lange, dass sie anders sind, meistens fühlen sie sich falsch und fehl am Platz. Und dann müssen sie ständig mit anhören, wie ihre Vertrauenspersonen, ihre Mama oder ihr Papa, mantramäßig über ihre vermeintlichen Unzulänglichkeiten berichten. „Er kommt in der Schule nicht klar, er hat keine Freunde, er ist so ungeschickt, schreiben kann er auch nicht“, und immer so weiter, jede Woche wird das einer anderen fremden Person dargelegt. Ich habe das immer alles brav mitgemacht, weil ich so sehr Hilfe brauchte, aber ich erinnere mich mit Grauen an all diese Gespräche und stelle diese Vorgehensweise hiermit in Frage. Möglicher Weise bedarf es hier mehr mutiger Eltern, die sagen: „Ja, ich bringe mein Kind mit, Sie können es selbstverständlich kennenlernen, aber wenn wir neurotypisches Tacheles sprechen, dann unter vier Augen.“
Zurück zur Eingliederungshilfe: nach erfolgreichem Absolvieren des bürokratischen Parcours wurden wir von der Sachbearbeiterin nach unseren Zielen befragt. Zu diesem Zeitpunkt, es ist etwa zwei Jahre her, befanden wir uns in einem desolaten Zustand. Die Nachmittage verbrachte unser Großer mit Essen und iPad und wir haben machtlos zugesehen, wie er immer dicker und in sich gekehrter wurde. An zwei Nachmittagen hatte er „Programm“, nämlich Lerntherapie und Ergotherapie. Ich glaube, nicht nur mir war klar, dass diese Therapien nicht wirklich zielführend waren. Die Ergotherapie hat seine Sensomotorische Integrationsstörung sehr positiv beeinflusst, und er ist einigermaßen gerne hingegangen. Dass das aber das wahre Problem nicht in den Griff bekommen sollte, war offensichtlich.
Und hier kommt noch etwas, was ich im Nachhinein anders machen würde: ich hätte mir besser überlegen sollen, was das Wort Therapie auslöst. Ich kann nur wiederholen: die Kinder fühlen sich falsch, weil sie wissen, dass sie anders sind – viel, viel früher als wir – und dann schleppen WIR – die Menschen, bei denen sie sich unbedingt richtig fühlen wollen und sollen – sie ständig zu einer Therapie, die sie irgendwie „richtiger“ machen soll. Unsere Kinder mit Asperger-Autismus, Kanner-Autismus, AD(H)S, Hypersensitivität, Hochbegabung, motorischen oder vokalen Tics, usw.: die wissen, was vor sich geht, sie wissen, was eine Therapie ist, und sie wissen: WIR, Mama und Papa, wollen sie durch eine Therapie „richtig“ machen. Was für ein Signal!
Eine Freundin von mir, die auch ein anderes Kind hat, hat das Wort „-Therapie“ durch „Stunde“ ersetzt. Der Junge ging also zur Lernstunde. Das finde ich eine super Idee. Für meinen Kleinen habe ich die Ergotherapie daraufhin von Anfang an Spielstunde genannt. Das habe ich der Ergotherapeutin auch direkt unter vier Augen erzählt, und sie fand es ganz wunderbar!
Nun also endlich die Eingliederungshilfe: Wir sollten beim Jugendamt konkrete Ziele vereinbaren, und ich war überrascht, was mein Sohn mit gut neun Jahren so formulierte: er wünscht sich Hilfe bei der Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen. BÄMM. Was hatte ich denn nun wieder falsch verstanden? Ich dachte, Autisten interessieren sich nicht für andere?? Sie wollen doch keinen Kontakt. Ist doch auch offensichtlich, sonst hätte er ja welchen! Tja, Mama…du bist halt keine Autistin, du hast KEINE AHNUNG! Ich kann hier nicht für andere sprechen, aber mein Sohn wünscht sich sehr wohl Kontakt, er hat nur nicht die geringste Idee, wie das gelingt. Und er wollte Sport in einem Verein machen, Fußball sollte es sein. Ich war baff. Mein Ziel war: Bewegung muss ins Leben. Körperliche. So geht das nicht weiter. Ob er deswegen gleich in einen Fußballverein kann? Mir wurde angst und bange. Aber: Gesagt, formuliert, unterschrieben – also die Ziele, auch von meinem Sohn – und dann musste ich mich an sog. Träger wenden. Denen schildert man, was man für eine Person sucht, und sie senden dann ausgebildete Menschen, die in Frage kommen und Kapazität haben. Bereits der zweite „Kandidat“ sollte es sein. Wir waren zunächst überrascht von der Auswahl, aber wir hatten inzwischen auch gelernt, dass unser Sohn die besseren Entscheidungen für sich treffen kann als wir. Mit unserem neuen Teilhabehelfer, nennen wir ihn Herrn M., ging es nun also los. Er holt unseren Sohn 1x wöchentlich von der Schule ab und dann laufen sie los. Immer zu Fuß, weil man dabei so gut reden kann, sagt Herr M. Sie laufen jetzt häufig zu einem Jugendfreizeitheim. Dort kann unser Sohn ihm sagen, dass er beispielsweise bei der Gruppe, die Billard spielt, mitmachen möchte. Und dann üben sie gemeinsam, wie das geht. Oft spielen sie auch zu zweit Fußball oder Schach, oder sie essen einfach ein Eis und reden. Es läuft großartig! Und was soll ich sagen: mittlerweile spielt unser Junge 2x in der Woche Fußball im Verein. In einer völlig falschen Altersgruppe, aber das ist egal. Außerdem hat er seine Aktivität beim Judo wieder aufgenommen und geht auch dort mittlerweile 2x in der Woche hin. Er hat sich motorisch super entwickelt, und er fühlt sich in diesen festen Gruppen mittlerweile auch richtig wohl. Natürlich (?) gibt es keinen Kontakt außerhalb der festen Trainingszeiten, aber mein Herz hüpft vor Glück, wenn ich ihm beim Judo lachen und strahlen sehe!
Ich bin die einzige Mutter, die noch zuguckt, wenn der fast 12jährige Judo macht, aber sein 60 Minuten lang strahlendes Gesicht erfüllt mein Herz regelmäßig mit Liebe und Glück! Hach, ich schau da so gerne zu…
Die regelmäßigen Feedbackgespräche mit Herrn M. – unter vier Augen! – sind großartig, erhellend und weiterbringend. Und alle sechs Monate sitzen wir Drei bei unserer freundlichen Sachbearbeiterin beim Jugendamt, reflektieren die vergangene Zeit und erhalten glücklicher Weise eine Verlängerung. Diese Termine sind für unseren Sohn sehr schwer, aber er steht sie durch, weil er sich unbedingt weiter mit Herrn M. treffen möchte. Ich glaube, Herr M. strahlt nicht aus, dass er ihn therapieren oder verändern möchte – weil er es auch wirklich nicht möchte – sondern er möchte ihm helfen, seine Wünsche zu erfüllen. Soziale Integration, Bewegung, Erlernen „normaler“ Verhaltensweisen (also sowas wie „Hallo, ich bin L., kann ich bei euch noch mitspielen?“)
Der bürokratische Weg zur Teilhabehilfe mag beschwerlich sein, aber meine Erfahrung ist, dass es sich lohnt! Ich kann hier nur Mut machen, sich darüber beim Jugendamt zu informieren, oder sich hier auf Different Planet dazu austauschen!
Vielen Dank für diesen hilfreichen Artikel! Viele Betroffene werden sich darin wiederfinden und die vielfältigen Hilfsangebote finden und wahrnehmen können.
Die positive Sichtweise ist zudem wunderbar!
Das ist ja toll, dass ihr so positive Erfahrungen mit dem Jugendamt gemacht habt! In unserer Region sieht es leider ganz anders aus: Hier werden vom Jugendamt ständig Diagnosen angezweifelt und uns und unserer Tochter Steine in den Weg gelegt – sei es bei der Bewilligung der Schulassistenz oder der Kostenübernahme der Autismustherapie. Und leider hört man das von vielen betroffenen Eltern in unserer Region ebenfalls 🙁 Unserem örtlichen Jugendamt scheint es weniger darum zu gehen, zu helfen und zu unterstützen, als zu Lasten der betroffenen Kinder Geld zu sparen. Es ist ein kräfteraubender Kampf und mir graut es mittlerweile vor jedem neuen Antrag, den man beim Jugendamt stellen muss. Jede Unterstützung muss man vor Gericht einklagen und wenn man sich keinen guten Anwalt leisten kann, hat man da echt verloren.