Erwachsener Freund zu meinem Großen „…oder leidest du unter dem Asperger-Syndrom“? Mein Großer: „Nein, seit der Diagnose nicht mehr.“
Mir standen die Tränen in den Augen! Alles richtig gemacht. Endlich mal!
Soweit ich weiß, überlegen viele Eltern, ob sie ihren Kindern all diese Tests und Untersuchungen zumuten können und wollen, und was sie im Falle einer Diagnose – welche auch immer – dann damit machen. Diese Überlegungen finde ich absolut nachvollziehbar. Die Untersuchungen sind langwierig und können belastend sein – allein schon deshalb, weil sie dem Kind ja signalisieren, dass mit ihm etwas nicht „richtig“ ist. Außerdem sind die Tests naturgemäß so strukturiert, dass man (auch) herausfindet, was das Kind NICHT kann, wo die Grenzen seiner Fähigkeiten liegen. Eine gewisse Frustration ist also vorprogrammiert. Folgt aus den Tests dann eine Diagnose, und entscheidet man sich dazu, sie „offiziell“ zu machen, ist sie ein Leben lang in den Akten vermerkt. Dass man da genau drüber nachdenkt, ist richtig und verständlich, finde ich.
Unser Leidensdruck war so enorm, ich konnte einfach nicht aufgeben nach einer Erklärung zu suchen. Auch nach mehreren vorangegangenen Tests, die Diagnosen wie „Sensomotorische Integrationsstörung“ oder „Lese- Rechtschreibschwäche“ zum Ergebnis hatten (alles korrekt, nur unvollständig) und daraus folgenden Therapieansätzen, erschien immer noch alles so „falsch“ und verfahren, und wir hatten zu Hause nur noch Streit. Unserem Kind ging es einfach richtig schlecht und zunehmend schlechter. Also haben wir uns im Februar 2018 dazu entschieden, weiter zu testen, diesmal in Richtung Autismus/Asperger.
Nach all den Jahren, in denen ich mir überlegt habe, was ich falsch mache, und vor allem, in denen wir und das Umfeld unserem Großen auf unterschiedliche Weise signalisiert haben, was ER falsch macht, und alles immer schlimmer wurde, war die Erklärung, dass er eine andere neuronale Grundstruktur hat und das Leben schlichtweg anders erfasst, verarbeitet und bewertet als wir „Neurotypen“, so entlastend und befreiend!
Ich habe zusammengestellt, was aus unserer Sicht die Vor- und Nachteile einer Diagnose für unsere Familie sind:
VORTEILE
- Wir haben eine Erklärung für viele Situationen und Verhaltensweisen unseres Sohnes, rückblickend und aktuell
- Wir können unserem Großen helfen zu verstehen, warum er sich oft „anders“ oder „falsch“ gefühlt hat und fühlt
- Wir versuchen nicht mehr ständig, ihn „normal“ zu machen
- Wir können unserer Familie, Freunden, Mitschülern, Eltern der Mitschüler, etc. eine Erklärung anbieten
- Deutlich bessere Stimmung zu Hause
- Zweifel an der eigenen Erziehung minimierten sich auf ein normales, gesundes Maß
- Wir können sehr viele Hilfsangebote wahrnehmen, von Schulhilfe bis Pflegegeld, die den Alltag für unser Kind und sein Umfeld deutlich verbessert haben
- Wir können vieles nicht ändern, z. B. das Schulsystem, das selbstverständlich auf „normale“ Kinder ausgerichtet ist. Durch unser Wissen können wir unseren Großen aber deutlich besser durch das System „manövrieren“ und auch „dem System“, z. B. der Schule, Hilfestellung geben. Von der Schulhilfe profitiert ja nicht nur der Schüler, sondern auch die Schule und die Lehrer
NACHTEILE
- Die Tests waren einigermaßend frustrierend für unseren Sohn
- Die auf unseren Wunsch offiziell gemachte Diagnose wirkt für das gesamte Leben des Kindes
- Vorurteile und Hemmungen des Umfelds können hartnäckig sein
Für unseren Sohn und für unsere Familie überwiegen die Vorteile ganz klar.
Ich möchte die zwei Jahre davor noch etwas näher beschreiben, weil ich im Rückblick in dieser Zeit so blind war, wie ich es immer bin, wenn ich keine Schublade mit klarem Namen vor meiner Nase habe, in die ich ein Problem einsortieren kann. Vielleicht hilft es dem ein oder anderen, die schlimme „Zwischenzeit“ ein bisschen zu verkürzen.
Bereits ab der ersten Klasse waren die Feedbacks der Klassenlehrerin „merkwürdig“. Das beschriebene Verhalten passte irgendwie nicht zu unserem Kind. Er denkt so kompliziert? Er wird aggressiv, wenn man versucht, ihm was beizubringen? Er zieht seine Jacke und Schuhe immer so komisch an, alles hängt auf Halbmast und er scheint es gar nicht zu bemerken?
Abgesehen davon, dass man sein Kind grundsätzlich für das Klügste und Tollste hält, waren die Beschreibungen einfach nicht so, dass ich meinen Sohn darin erkannt habe. Was tut man als Working Mom, die sich ihr Weltbild nicht verrücken lassen will? „Wächst sich raus“. Fertig.
Dann kam der Kleine dazu und der Fokus war eh nochmal anders gesetzt. Und alle Probleme hatten plötzlich eine super Erklärung: er ist ja grade mit sieben Jahren nochmal großer Bruder geworden. Das ist halt schwer. Jedoch: die Selbstzweifel wuchsen, der Streit zu Hause nahm unaufhörlich zu, und immer musste der Kleine als Grund herhalten. Sicher kam das erschwerend hinzu, aber das Phänomen, mit sieben Jahren ein Geschwister zu bekommen, hatte bis dahin nicht grade den Ruf, eins der schwerwiegendsten Probleme der psychischen Gesundheit zu sein. Und noch viel wichtiger: mein Bauchgefühl hat mir auch was anderes gesagt! Mangels einer vernünftigen Erklärung hab ich aber weiter weggeguckt und mir alles schöngeredet… (Über die Phase der Selbstvorwürfe bin ich mittlerweile (fast) hinweg, aber die Erkenntnis begleitet mich weiter.)
Die Spitze des Eisbergs war das Halbjahreszeugnis der vierten Klasse. Nicht, dass es mich unvorbereitet traf. Die Lehrerin bat mich zwischendurch immer wieder zum Gespräch. (ich: keine vernünftige Erklärung, weggucken, schönreden…Ihr wisst Bescheid). Das Zeugnis wurde dann mit mir vorbesprochen. Es war ein wirklich schlechtes Grundschulzeugnis, besonders für ein Kind, das normal intelligent erschien. Dennoch war es ein Schock, besonders der mündliche Zusatz, dass jede Note in Wirklichkeit noch schlechter sein müsste, und dass man sich als Schule am Ende seines Lateins befände. Sie wüssten jetzt auch nicht mehr weiter. Der größte Horror war der angehängte Bewertungsbogen seiner Sozialkompetenzen.
Ich bin der Lehrerin heute unendlich dankbar. Sie hat dafür gesorgt, dass ich endlich hingucke.
Mein Sohn war vom Zeugnis tief getroffen. Er lag nachmittags in seinem Zimmer und wollte nicht mehr sprechen.
Am nächsten Morgen sind wir zu meinen Eltern geflogen, um dort die eine Woche Winterferien zu verbringen. Es war so belastend, dass ich die Nächte damit verbracht habe, im Internet nach Erklärungen zu suchen und mir zu notieren, wie es ihm geht. Meine Notizen von damals habe ich noch. Sie sind so grausam, dass ich kaum wage, hier alles wiederzugeben. Ein paar Dinge vielleicht: die Schule spiegelte, dass sie ihn für normal bis überdurchschnittlich intelligent halten, dass er aber im Morgenkreis oder während sie einen Film gucken, komplett abwesend sei und unaufhörlich mit dem Oberkörper schaukele. Er hätte außerdem nie seine Materialien, Bücher oder Hefter, er könne nicht schreiben, und wenn er es doch mal täte, könne man es nicht lesen, weil er mit einem rosa Stift auf ein weißes Blatt schriebe und das auch noch im Kreis. Motorisch sei er kurz vor einer Behinderung.
Zu Hause gab es nur noch Essen und ipad. Keine Freunde, keine Bewegung und Geburtstagseinladungen wurden versteckt gehalten. Außerdem kaute er mehr denn je seine Kleidung kaputt, er konnte weder einen Schnürsenkel binden, noch die einfachsten alltäglichen Aufgaben selbstständig erledigen.
Nach den Ferien bat ich zunächst die Lehrerin um ein weiteres Gespräch. Als ich zu ihr ging, wollte ich mich über den Bogen mit der Bewertung der Sozialkompetenzen beschweren. Es war der Schlüsselmoment. Ich sagte zu ihr: „zu den Noten kann ich nichts sagen, aber wenn ich mir den Bogen hier so ansehe, kann ich einfach nicht glauben, dass wir über meinen Sohn reden! Sowas kann man doch nicht so ausfüllen, wenn andere das mal in die Hände bekommen, haben die doch den Eindruck, wir haben es hier mit einem Autisten zu tun!“ BÄM! Ein Blitz durchzuckte mich. Und ich glaube, sie auch.
Ich ging also zur Kinderpsychiaterin, bei der wir eh schon waren, und ich erzählte ihr alles und fragte sie, ob sie einen Test in Richtung Asperger – Autismus befürworten würde. Würde sie. Kurz drauf war alles klar.
Und seitdem gleicht unser Leben einem Schlaraffenland. Wir haben Schulhilfe, ein super Zeugnis, Spaß zu Hause, ganz andere Regeln im Familienleben, aber wir haben vor allem eines: einen Jungen, der sich gesehen und akzeptiert fühlt, der sich „richtig“ vorkommt, der Lachen kann und wieder ein zu Hause hat, in dem er sich wohl fühlt. Der zum Fußball und zum Judo geht, und der sogar manchmal, ganz selten, eine Verabredung mit einem gleichaltrigen Kind hat und die auch noch schön findet. Neulich hat er es sogar so verbalisiert: „Mama, heute habe ich mich gefühlt, wie ein normales Kind. Ich hatte eine Verabredung mit einem anderen Kind und hab mich dabei wohl gefühlt.“
Ich jetzt: Tränen vor Glück. Und ich gucke gerne hin!
Liebe Katrin, ich hatte mich ja schon kurz nach dem Erscheinen dieses Blogs mit ein paar eher technisch/organisatorischer Themen bei Dir gemeldet – weil ich ja bei dem eigentlichen Thema « Asperger », wie ich dir sagte, nichts oder nicht viel beizutragen habe.
Du hast mich gebeten, auch dir zuliebe, doch einmal alle Beiträge zu lesen und dir dann zu sagen, wie ich das alles beurteile.
Also habe ich nun in der besten Absicht angefangen, zunächst alle auf der Website behandelten Themen und Beiträge zu lesen und dir dann meine Meinung darüber kundzutun. In diesem Moment bin ich am Ende des ersten Blogs « Diagnose – ja oder nein/Asperger Alltag » angekommen. Ich weiß, es geht nicht um mich und meine Gefühle – trotzdem möchte ich dir als dein Vater und Opa deines « Aspergers » schreiben, dass ich gar nicht in der Lage bin, einfach das nächste Kapitel aufzuschlagen. Deine Schilderungen haben mich eingefangen und auch aufgezeigt, wie weit ich von dem Thema, von deinem/unseren « Asperger » und auch dir entfernt bin. Wollte ich das alles nicht wissen, wie sehr dich das berührt, wie sehr du leidest? Oder kann ich mich damit herausreden, dass auch du lange weggeschaut hast? Liebe Katrin, schon jetzt hat mich das alles auf einmal mehr berührt, als die ganzen vergangenen Jahre zusammen. Nach vorne blickend glaube ich, dass nun wir ein weiteres gemeinsames Thema haben und auch meine Kontakte mit deinem « Asperger » (und meinem Enkel) nicht nur besser und verständnisvoller, sondern auch inniger werden. Mach weiter so, du machst es richtig, bin stolz auf dich und ich freue mich auf auf alles Künftige. Dein Papa
Hallo K, Dein Beitrag hat mich sehr berührt und die differenzierte Betrachtung sehr gefreut. Wir haben uns bei unserem Sohn gegen eine Diagnose entschieden, unter Abwägung der befürchteten Nach- und Vorteile. Das macht es einerseits schwierig, sich in Eure Erfahrungen einzureihen, andererseits erkenne ich uns in vielen Beiträgen hier sehr wieder.
Sicher ist die Entscheidung auch sehr vom Leidensdruck der Kinder in der Schule geprägt. Wir haben glücklicherweise eine sehr gute und strukturierte Lehrerin sowie einen pädagogisch sehr versierten Schülerladen, so dass wir hier gute Unterstützung erhalten. Aber auch für mich war schon allein die Verdachtsdiagnose (von Therapeutin und Schülerladen unabhängig voneinander geäußert) eine wahnsinnige Entlastung und sehr hilfreich für mein Verständnis- wo auch immer unser Sohn auf dem Spektrum zwischen Autismus und Neurotypisch liegen mag.
Schwierig finde ich manchmal, dass ich gegenüber anderen nicht einfach erklärend sagen kann: “Er ist Autist”. Das ist aber mein Thema, er selbst ist zufrieden. Mancgmak sage ich: “Er ist ein bisschen besonders und braucht das.” o.ä. Meinem Sohn selbst versuche ich nun noch mehr zu vermitteln, dass er ok ist, wie er ist und erläutere mit ihm, was er in bestimmten Situationen tun könnte. Das hilft ihm.
Aber trotzdem treibt es mich manchmal um.
Übrigens: Auch das, die Grenzen kennenzulernen, finde ich sehr herausfordernd. Man liest oft von Hochbegabten, aber selten von Eltern, die von ihren Kindern berichten, deren IQ unter dem Normalbereich liegt (aber nicht im Bereich der Behinderung).
Hallo Kirsche!
Dein Beitrag ist nun schon lange her, aber ich bin erst jetzt darüber gestolpert. Wir quälen uns auch gerade mit der Frage Diagnose ja oder nein!?! Es beschäftigen mich die gleichen Fragen wie dich….
Wie habt ihr euch mittlerweile entschieden bzw. wie ist es euch seitdem ergangen?
Viele Grüße,
Kira